Krise? Welche Krise?

Wir müssen die aktuelle Lage in der Tiefe begreifen. Watisn stratejisch herjeleitete Kaufimpuls? Da stelle mer uns janz dumm. Un sage so: Der Kaufentscheidung geht heute ein anderer Prozess voraus als noch in den 90ern. Die Aktion-Reaktion-Mechanik hat sich verschoben.

Dass viele Menschen in Deutschland derzeit die Auswirkungen einer von fremd- und inländischen Führungskräften herbeigewirtschafteten Krise ausbaden müssen, kann niemand abstreiten. Weniger Jobs, weniger Geld, dafür viele offene Fragen. Zum Beispiel diese: Warum werben branchenübergreifend Unternehmen und Institute weiter, als sei nichts geschehen? Als seien Kaufkraft und Verbrauchervertrauen unerschöpflich?

Im Augenblick erlebt mein Beruf eine überfällige Rennaissance. Das Spruchwerk der Endneunziger wird eingemottet, pensioniert. Nicht evolutionstauglich. Was kommt? Aktives Vertrauensmarketing. Glaubwürdige Marken- und Unternehmenskommunikation. Dialogmarketing jenseits der reinen Kreativ-Idee. Ich persönlich kann es kaum erwarten, bis sich der Wandel durch alle Kommunikationsdisziplinen dekliniert hat und Textwerk wieder sprachschön, wirkstark und didaktisch sinnvoll sein darf. Jau. Aber der Reihe nach.

Unzustellbares Rettungspaket

Es investieren beispielsweise Banken, Energieversorger, Lebensmittelgiganten und Versicherungen in der Vorweihnachtszeit ihr staatlich verordnetes Rettungssalär in Werbeplätze zur Hauptsendezeit, um mehr oder weniger austauschbare, teilweise vor Monaten produzierte Spots abzufeuern. Diese Spots zeigen eine schöne schuldenfreie Welt, in der sich scheinbar alles um die Zinsabschlagssteuer, Handytarife, Reinigungsprodukte, Unterhaltungselektronik, Autos, Baufinanzierungen und diverse Vorsorgeprodukte auf Wertpapierbasis dreht. Dass mancher Verbraucher kürzlich mit ebensolchen Produkten sein Erspartes geschrumpft hat, wird verschwiegen.

Was nützt die ergiebigste Finanzspritze, wenn diejenigen, die über Umsatz und Konsum entscheiden, nicht ernst genommen werden? Verschuldete Verbraucher kaufen weniger. Unzufriedene noch weniger. Und verschuldete, unzufriedene und misstrauische Verbraucher? Sie reagieren. Fühlen sich zu Recht verschaukelt. Und finden in den allzu selbstsicher werbenden Global Players ein dringend benötigtes Feindbild.

Auch die Energieanbieter sparen nicht mit Heile-Welt-Kreationen und bieten »attraktive Tarife« an. Fein. Nur, wie attraktiv könnte ein Gastarif sein, der seit 2004 um 40 bis 70 Prozent gestiegen ist und in einem Fall sogar Menschen aus der nicht ganz so werberelevanten Zielgruppe in den Kältetod treibt, weil diese sich die »attraktiven Tarife« nicht mehr leisten können?

Die Strategieabteilung sagt: Schade, erfrorene Nichtzahler sind leiderleider nicht unser Publikum. So weit, so zynisch. Aber! Diejenigen, die finanziell auf der Sonnenseite des Lebens stehen, sind weder blind noch taub. Sondern beginnen, sich Fragen zu stellen. Über diejenigen, denen sie ihr hart erarbeitetes Einkommen zur Verfügung stellen. Deren Motive, Identität, Gesinnung.

Noch einmal, bitte sacken lassen: Menschen beginnen, sich Fragen zu stellen! Von Antworten, respektive vertrauensbildenden Maßnahmen, Aufklärung, handfester Information oder gar glaubwürdiger Kommunikation in der Werbung jedoch keine Spur. Die Postbank verzICHtet ebenfalls auf Vertrauensmarketing und präsentiert sICH mit einer Kampagne im Wirtschaftswunder-Stil inklusive foll dodal witzICHer Rechtschreibfehler. Bei allem Verständnis für reibungsarme Kreation, aber dieser Ansatz ist so weltfremd, dass man ihn eigentlICH für Satire halten muss. Noch ein KredItCHen für unterwegs? Zum Beispiel für die Gasnachzahlung? Okay, genug gemosert.

Wie könnte man es besser machen?

Nichts lieber als konstruktives Denken. Doch vorher müssen wir die aktuelle Lage in der Tiefe begreifen. Watisn stratejisch herjeleitete Kaufimpuls? Da stelle mer uns janz dumm. Un sage so: Der Kaufentscheidung geht heute ein anderer Prozess voraus als noch in den 90ern. Der aufgeklärte Konsument will nicht mehr wissen, ob Waschmaschinen dank Entkalker länger, hüstel, leben. Sondern liest Ratgeberseiten im Internet, Testberichte, folgt Empfehlungen, informiert sich im realen Umfeld, fragt Freunde, Kollegen, Nachbarn, tauscht sich in Foren und Chats aus. Die Aktion-Reaktion-Mechanik hat sich verschoben. Menschen lassen sich nicht mehr nur von Bildern und Sprüchen zum Kauf verleiten. Reichte früher eine kreative Kampagne als Impulsgeber, so liegen heute die Kaufanreize nicht mehr außerhalb, sondern im Bewusstsein des Käufers!

Die werberelevante Zielgruppe ist keine willenlose Akzeptanzstelle für Ideen der Werbewirtschaft. Sondern entscheidet sich beispielsweise, Produkte von Unternehmen zu konsumieren, die sie auf der Gewinnerseite des Marktes sehen möchte. Oder achtet darauf, welche Herkunftsländer aus ethischen oder ökologischen Gründen tabu sind. Dieses wertegewandelte Verbraucherbewusstsein ist mitnichten ein Zufallsprodukt oder Zeitgeist, sondern eine Reaktion auf ebenjene Werbegewächse, die während der letzten 10 Jahre ungebremst ins Absurde sprießen und blühen durften. Nun haben wir den Salat. Bunten, 3D-animierten, sprechenden Salat, den keiner essen will, obwohl er im Vorabendprogramm in Designerküchen mit Tiefkühlgemüse tanzt. Die potenziellen Käufer sind immun gegen Fisematenten geworden! Abgehärtet, resistent dank jahrzehntelanger Desensibilierungstherapie.

Und warum ist das gut?

Weil es ehrlicher, schlichter zugehen wird im Wi-Wa-Werbeparadies. Kampagnenmacher und Werbetreibende müssen auf das dynamische Kundenverhalten reagieren und ihm Rechnung tragen. Müssen einen Dialog als vertrauensbildende Maßnahme zwischen Anbieter und Kunde beginnen. Dieser Dialog folgt anderen Regeln als kreative, innovative Kampagnenideen, die niemals ein Versprechen einzulösen brauchten. (Sie dürfen mich zitieren, wenn dieser Gedanken auch bei Ihnen eingesickert ist, Sie ihn stolz im Strategiemeeting auf die Tafel schreiben und die angemessen beeindruckten Gehirnwindungen Ihrer Vorgesetzten und Kunden inspiriert zu zucken beginnen:-)

Kreativ oder glaubwürdig?

Innovative kreative Werbeideen erregen Aufmerksamkeit: Ja, dazu sind sie da. Wer seinen potenziellen Kunden verspricht, ihre Zufriedenheit steigern zu können, erst recht. Doch wozu führt diese Aufmerksamkeit, wenn sie nicht durch Glaubwürdigkeit untermauert wird? Sie verpufft ohne nachhaltigen Effekt. Allzu innovative Kampagnen erregen eher Misstrauen. Oder aus Verbrauchersicht (komplementär zur Werberperspektive, sic!) formuliert: »Wenn ein Produkt mit soviel Gedöns verkommuniziert werden muss, ist was faul dran.« Wenn also eine Beispielbank einerseits ihre Kunden davor warnt, sich zu überschulden und andererseits mit altbackenen Luxussymbolen wie einer Yacht für einen »fairen Konsumentenkredit« wirbt, muss sich die Frage gefallen lassen, was hinter diesem Angebot steckt.

Der Weg zur Erkenntnis ist kurz. Angenommen, auf der Website jener Beispielbank wäre von niedrigen 5,99 Prozent die Rede. So weit, so günstig. Dann der unscheinbare Satz im Kleinstgedruckten: »Zinssatz kann je nach Bonität höher ausfallen.« Wie hoch die Zinsen tatsächlich sind, zeigt sich, wenn man den Online-Antrag ausfült und als Einkommen 2.000 oder 3.500 Euro netto pro Monat angibt. Viel Geld, aber nicht genug. Auf einmal stehen da variable und stolze 12,9 Prozent Effektivzins p. a. , d.h. ein 10.000-Euro-Kredit kostet in sieben Jahren *Taschenrechner zück* ohne Sondertilgung und inklusive Bereitstellungsgebühr – schluck! Für den Fall, dass ein Kunde nicht zahlen kann, wird eine Restschuldversicherung angeboten. Und wer versichert diese Restschuld? Ein Tochterunternehmen. Zufälle gibt’s. Die Yacht dürfte wohl eher ein Schlauchboot werden.

Erfreulicherweise spricht sich das herum. Bis vor kurzem schwiegen verunsicherte Kunden, aus Frust oder Scham, um nicht als Loser dazustehen. Doch diese Ängste neigen sich dem Ende zu, Krise sei Dank. Kunden artikulieren sich, tauschen Erfahrungen aus, schreiben ans Fernsehen, an Ratgeber-Foren, Zeitschriften und Verbraucherzentralen. Ein mündiger Verbraucher fällt auf Lockvögel nicht so leicht herein, weil er die Versprechungen, und seien sie noch so kreativ, automatisch mit Referenzerlebnissen und Informationen vergleicht und als heiße Luft enttarnt. Was folgt daraus?

Wahrheit ist die beste Werbung!

Die Glaubwürdigkeit eines Angebots beginnt nicht erst bei der Vermarktung, sondern bereits bei der Produktkonzeption. Ein Riegelprodukt, das aus recycelten Lebensmitteln, sprich Abfall, hergestellt wird, ist und bleibt Abfall. Keine Nascherei aus gesunden Zutaten oder Frühstücksersatz. Hilfreich wäre die offene Kommunikation zwischen Produktentwicklung und Werbetreibenden. Die Einrichtung einer Stabsstelle Glaubwürdigkeit auf Kundenseite könnte beispielsweise das Tagesgeschäft vereinfachen. Nur als Denkanstoß.

Texter und Konzeptioner sollten keinen erfundenen Neusprech mehr erzählen, sondern die Wahrheit. Wer Produkte und Dienstleistungen verkaufen will, darf den Adressaten seiner Akquise nicht länger als Zielgruppe begreifen, sondern muss den Faktor Mensch berücksichtigen. Dieser Mensch möchte nicht manipuliert werden, sondern ernst genommen. Nicht bevormundet, sondern informiert. In seiner Sprache. Nicht in einer, von der Werbemenschen denken, es sei seine.

Auch wenn er sich oberflächlich betrachtet gerne führen lässt – ein Kunde will dennoch das Gefühl haben, dass er selbst entscheidet, was er isst, trinkt, anzieht, verschenkt, fährt, schiebt, riecht, schmeckt, fühlt, hört, anschaut oder sich auf die Haut streicht. Ganz freiwillig.

Eine Antwort auf „Krise? Welche Krise?

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