Es könnte so einfach sein…

Aus der Reihe autistic perception #79, diesmal auf Deutsch und nicht bei Facebook, sondern hier.

Es gibt Dinge, über die könntschmischuffresche, wie der Hesse sagt. Zum Beispiel, wenn eine schöne Veranstaltung so unklar kommuniziert wird, dass der Gedanke an einen Besuch in Stress ausartet. Wie beim Rheingau Musikfestival, Cuvéehof-Konzert auf Schloss Johannisberg.

Sommerzeit ist Festivalzeit. Quer durch die Stilrichtungen. Heute Springerstiefel, morgen Abendkleid. So unterschiedlich wie die musikalischen Gäste tönen auch die Kommunikationskanäle der jeweiligen Veranstalter.

»Nein, am Venue kann man nicht parken. Auch nicht in der Umgebung.«

»Und wie kommt man als Konzertbesucher zu Ihnen?«

»Parken Sie im Industriegebiet Geisenheim oder irgendwo in Winkel, von da aus fährt ein Shuttlebus, ganz einfach.«

Ganz einfach? 

Das ist verdammt relativ. Ja, für die meisten Menschen stellen solche Angaben lediglich eine Ungenauigkeit dar, die man spontan vor Ort händeln kann. Für Autisten, Hochsensible, Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung und andere neurodiverse Gäste, die zwingend ein Minimum an struktureller Planbarkeit benötigen, um nicht in ein logistisches schwarzes Loch zu fallen, sind sie allerdings übel. Richtig übel.

Was ist hier falsch?

So ziemlich alles. Zunächst einmal sind »Industriegebiet Geisenheim« oder »in Winkel« unprozessierbare Zielbeschreibungen. Wie wär’s ganz simpel mit Postleitzahl, Straße, Hausnummer und ein paar konkreten Infos? Handelt es sich um einen öffentlichen Parkplatz, ein Parkhaus, eine Straße oder einen privaten Bereich, der nachts geschlossen wird? Ab wann fahren diese Shuttles? Von wo, wie oft, bis wann und wie lange?

Mit diesen wenigen klaren Angaben wäre das Problem zu lösen respektive gar nicht existent. Auch mein Autistengehirn will Antworten. Doch die bekomme ich nicht. Selbst nach zwei Rückfragen per E-Mail, gründlichem Absurfen der Veranstalter-Websites sowie diversen Exkursionen via Google Maps weiß ich immer noch nicht, wo sich diese Parkplätze befinden, und wann die Shuttles fahren. Immerhin gibt’s ein PDF, das behauptet, Infos zu enthalten. Hurra! Furchtlos draufgeklickt und – denkste. Es öffnet sich ein nahezu unleserlicher Kartenausschnitt, auf dem die Buchstaben A-F eingetragen sind, was vermutlich Haltestellen andeuten soll? Vielleicht ist es auch ein geheimer Code aus dem alten Ägypten, mit dem man sich Riesling bestellt. Es gibt keine Adressen, Straßennamen, keinen Bezug zu irgendeiner Örtlichkeit und keine Uhrzeiten. Meine Güte, dagegen war ein YPS-Heft aus dem Jahr 1975 ja ein hochpräzises wissenschaftliches Werk!

Barrierefrei?

Ganz heißer Tipp. Barrierefreiheit beginnt nicht erst bei Zufahrtsrampen, sondern viel früher, nämlich bei der Sprache. In diesem Falle damit, die drei wichtigen Ws zu kommunizieren: Was? Wo? Wann? Zum Beispiel so:

»Einlass ab {Uhrzeit}, Veranstaltungsbeginn {Uhrzeit}. Sie parken kostenlos auf unseren P+R-Plätzen in {12345 Klein-Fluffingen} auf der Parkfläche {Anschrift}. Die Anfahrt ist mit P+R {Festivalname} beschildert. An der Bushaltestelle {Abfahrtsort} fährt ab {Uhrzeit} ca. im Viertelstundentakt ein Shuttle zum Veranstaltungsort, die letzte Rückfahrt zum Parkplatz ist um {Uhrzeit}. Weitere Infos in unseren FAQs.« 

So ein knuffiger kleiner Textabschnitt kostet fünf Minuten, spart viel Zeit und Verwirrung, und würde jedem helfen. Immerhin handelt es sich um das »größte Musikfestival Europas.«

Zum Glück gibt es Veranstalter, die es besser machen, und das mit deutlich kleinerem Budget.

Positivbeispiel: Frankenstein Kulturfestival

Aaaaaah, schön. Das Festival auf der Burg Frankenstein bei Darmstadt hat eine geradezu vorbildlich strukturierte, sympathische und informative Website, auf der ALLE wichtigen Daten gebündelt sind. Klar, verständlich, übersichtlich. P+R mit vollständiger Adresse, Shuttle-Details mit Uhrzeiten, perfekt beschilderte Anfahrtswege aus allen Richtungen, die Realität vor Ort stimmt 1:1 mit den virtuellen Angaben überein. Die Gäste kommen absolut entspannt und stressfrei aufs Gelände – und das trotz der exponierten Lage ganz oben auf dem Berg. Hier wurde die anspruchsvolle Aufgabe, einen Konzertsommer samt Fans logistisch gut zu wuppen und sauber zu kommunizieren, hervorragend gelöst. Als Besucher kann ich mich voll und ganz auf den Spaß konzentrieren. Und das tun, wozu ich hier bin: die Musik genießen.

Merke: Klare präzise Kommunikation rockt und macht die Welt schöner, fröhlicher und friedlicher für alle. Immer. In allen Lebenslagen. Eigentlich ganz einfach. 

Edit: Die Realität im Rheingau sah übrigens anders aus als die Kommunikation.

Wirkten die Kommunikationsmittel des Festivals eher hakelig und unkonkret, so überraschte der Abend mit perfekter Organisation. (Was mich zur Frage bringt, ob man da textlich nicht eine Schippe drauflegen könnte.) Alles war großartig umgesetzt, vor Ort gab es jede Menge netter hilfsbereiter Menschen, und auch das mit den Shuttlebussen klappte vorzüglich. Ich danke für einen zauberhaften Abend auf dem Schloss Johannisberg, mit dem wohl besten Live-Sound, den ich in den letzten Jahren genießen durfte, und freue mich schon aufs nächste Jahr.

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Foto: Pixabay

Text: Kathrin Elfman © 2023

Permalink:

zaubertinte11.wordpress.de/2023/06/27/barrierefrei/

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