Saftflaschen, Sex und Wahlk(r)ampf

Heute ist ein großer Tag. Ich habe herausgefunden, warum im Kühlschrank das Licht ausgeht, wenn man die Tür zumacht: damit die gekühlten Produkte beim Anblick ihrer Beschriftungen nicht suizidal werden.

Frühstück, yeah. Heute zur Abwechslung mit frischem Granatapfelsaft. Spontan aus dem Kühlregal mitgenommen. Was ich nicht wusste: Granatäpfel scheinen in einer Identitätskrise zu stecken. Es genügt nicht, sie zu pressen, in Flaschen zu füllen und draufzuschreiben »Mmmmh, lecker Granatapfelsaft.« Nein, Granatapfelsaft ist offenbar legitimierungsbedürftig wie eine politische Partei. Er braucht ein ernstes Image, eine Rechtfertigung für seine Existenz. Jedenfalls rollt mir diese Vermutung durch die noch unbefrühstückten Synapsen, während ich mir die Flasche genauer anschaue.

Damit gar nicht erst der optische Eindruck von Genuss oder Spaß entsteht, wurde die an sich hübsche, schlichte Halbliterflasche mit einem schwarzen Etikett zugeklebt.

Schwarz! Auf einer Flasche mit rotem Saft drin!

Ich fühle mich an den Blutspendetag beim Roten Kreuz erinnert. Gulp. Wer soll das gut finden außer Ozzy Osbourne und Alice Cooper?! Und was will mir das sagen? Dass die Flasche aus Transsilvanien kommt? Oder dass sich das Produkt als Desensibilisierungstherapie bei posttraumatischem Stresssyndrom eignet?

Auf mich wirkt die Flasche so appetitlich wie ein offenes Grab. Aber es ist Montag, ich bin voll der Held, außerdem habe ich Hunger und will endlich frühstücken. Als ich die Flasche öffne, höre ich leise verzweifelte Stimmen. Huch?

Es sind Buchstaben, die mich in höchster Not anflehen. »Räche uns«, raunen sie. »Verhau den Texter und den Grafiker, die uns aus völlig unterschiedlichen Schriftfamilien entführt und zu sinnlosen Textformationen zwangsverheiratet haben. Wir wollen das nicht! Und mach das Licht aus.«

Ich bin Pazifist. Kollegen verprügle ich nur ganz selten. Aber die Typos haben Recht. Außer dem Markennamen steht da von oben nach unten sowie von links nach rechts:

  • Granatapfel
  • Vegan
  • Direkt gepresst
  • 100% natürlich
  • Mediterrane Superfrucht
  • Wusstest du schon, dass Granatäpfel zu den beliebtesten Superfrüchten zählen? Granatäpfel enthalten 220 mal mehr Antioxidantien als Orangen.
  • 500ml enthalten 5 Granatäpfel
  • Ohne Konzentrate
  • Vegan
  • 1 von 5 täglichen Portionen Obst und Gemüse, die von der WHO empfohlen werden.

Auf der Rückseite über den Nährwertangaben nochmal das Gleiche: 100% Granatapfelsaft / Granatapfelsaft direkt gepresst. Hm.

Was fehlt? Richtig: der Genussfaktor.

Kein Rezept. Kein Serviervorschlag. Nichts mit Sonne, Bäumen und Lebensfreude. Kein liebevoller Hinweis, was geschmacklich dazu passt. Kein Tipp, ob man das Zeug gekühlt oder heiß, aus dem Glas, im Tee oder nur bei Neumond zu sich nehmen soll. Oder dass man Desserts, Saucen und Marinaden damit verfeinern kann. Oder Fruchteis machen. Nix gibt’s. Granatapfelsaftflaschensafttrinken scheint eine ernste Angelegenheit zu sein. Keinesfalls darf sie vergnüglich oder genussvoll kommuniziert werden.

Stattdessen bekomme ich zweimal erklärt, dass ich das Zeug zu mögen habe, weil die WHO das meint und außerdem der Granatapfel eine der beliebtesten Superfrüchte –

Halt, Moment. Das darf nicht unkommentiert bleiben: Superfrucht! Neben Detox ein persönliches Hasswort von mir. Ein New Age Textmutant ohne Daseinsberechtigung, gerne verwendet im Nahrungsergänzungsmittelmarketing.

Liebe Kollegen: Es gibt genau ein einziges Lebewesen auf unserer schönen Erde, das sich »Superfrucht« nennen darf, und das wäre die Tochter von Superman. Granatäpfel, Gojibeeren, Noni und andere Leckereien sind exotische Früchte mit hohem Gehalt an Antioxidantien. Auch wenn das Obst supergut schmeckt, muss man ihm doch keine übernatürlichen Fähigkeiten als Verkaufshilfe andichten.

Über das hier sinnfreie Wort »mediterran« sage ich lieber nichts. Sonst merkt noch jemand, dass Granatäpfel nicht nur am Mittelmeer wachsen, sondern auch am Atlantik, am Pazifik oder in hessischen Wintergärten.

Und »Ohne Konzentrate« ist im Zusammenhang mit »Direkt gepresst« wie »ein Kreis ohne Ecken.« Direktsaft ist eine Qualitätsbezeichnung. Enthielte die Flasche Konzentrate, dürfte das Produkt nicht Direktsaft heißen.

Mit Lust und Liebe

Schon mal einen Granatapfel zerlegt und gegessen? Ja, das kann je nach Technik eine Farbexplosion in der Küche geben. Aber es ist ein sinnliches Vergnügen. Die reife hartschalige Frucht in den Händen hin- und herrollen, die Kerne knirschen hören, den Duft einatmen. Dann die Schale vorsichtig anritzen, Daumen reinbohren und die Frucht auseinanderbrechen. Dabei möglichst wenig Kerne verletzen (»nein, ich habe keine Nachbarn in der Spüle zerteilt, nur Salat gemacht«), schließlich mit viel Fingerspitzengefühl die Kerne aus der Schale drücken und in eine Schüssel kullern lassen. Die bittere weiße Innenpelle rausfriemeln, Löffel nehmen und – aaaaaaaah.

Wie muss man drauf sein, um dieses lustvolle Event in eine Flasche mit schwarzem Etikett zu sperren, die klingt wie vom DDR-Nahrungsmittelkombinat betextet?

Wenn dem verflüssigten Granatapfel wenigstens eine klitzekleine Attributisierung geschenkt worden wäre! Sonnengereift, erntefrisch, aromatisch, telepathisch begabt, irgendwas. Aber die einzigen Adjektive in dieser unfrohen Buchstabensammlung sind »vegan« und »beliebt«. Das zweite sogar als Frage getarnt. Beliebt? Heißt übersetzt nichts anderes als: »Wir weisen dich darauf hin, dass eine relevante Mehrheit Granatäpfel mag. Wenn du sie nicht magst, bist du nicht mehrheitsfähig.«

Excuse me? Ich will doch nur frühstücken!

Noch mehr Flaschenlyrik

Später auf der Straße habe ich ein Déjà-vu. Wieder flehen mich Buchstaben an, die ohne Sinn und Konzept hingerotzt wurden. Diesmal nicht auf einer Flasche, sondern auf dem Trägermedium Wahlplakat.

Kinder vor Armut schützen! Krieg! Angst! Renten mit Niveau! Gerechtigkeit! Familie! Umwelt! Arbeit! Es reicht! Wir machen’s einfach. Alle doof außer Mami! Wäääh!

Ob auf Schwarz, Grün, Blau, Gelb oder Rot, das unsubstantiierte Geschrei ist unfroh und blutleer. Keine Spur von echtem Leben. Oder echter Kommunikation mit echter Aussage. Für echte Menschen können diese Textbriketts nicht verfasst worden sein.

Ob Saftflasche oder Wahlplakat: von Lebensqualität, Ehrlichkeit, Direktheit oder gar menschlicher Wärme keine Spur. Ist es da ein Wunder, dass Wähler und Konsumenten mit Boykott und Verweigerung reagieren?

Mal überlegen. Wem höre ich wohl eher zu: Jemandem,

  • der mir knallekalt erklärt, warum ich dieses oder jenes gut finden muss und als Begründung die WHO, eine nebulöse Mehrheit oder den Dritten Weltkrieg bemüht?
  • der in mir freundlich und entspannt das Gefühl von »Ja, das tut mir gut, das passt zu mir, das will ich« weckt?

Rhetorische Frage, klar. Niemand möchte von oben herab angewanzt werden. Sympathie lässt sich nicht mit vorgehaltener Waffe erzwingen. Aber warum ist das den Absendern nicht klar? Was bringt Produkthersteller und Parteien dazu, ihren angepeilten Zielgruppen Textbausteine zwischen die Augen zu schmeißen, statt ganz normal mit ihnen zu reden?

Ich stell mir vor, ich würde diese lebensferne, passiv-aggressive Rhetorik in meinem Alltag verwenden. Angenommen, da wäre ein Mann, den ich toll finde. Und ich würde ihm schreiben:

»Hey, geschlechtsreifer Rezipient! Die WHO sagt, Sex ist gesund. Hurtig, kopuliere gefälligst. Außerdem bin ich eine mehrheitsfähige Superfrucht, bekämpfe die Arbeitslosigkeit und befürworte eine interfamiliäre Fortpflanzung.«

Er würde mich vermutlich fragen, was ich genommen habe. Ob er mir glauben würde, dass es nur Granatapfelsaft war?

PS: Geschmeckt hat der Saft ganz prima.

PPS: Wie man Getränkeflaschen originell beschriften kann, zeigt uns der Smoothie-Anbieter Innocent. Nur mal als inspirierendes Textbeispiel, was alles Schönes geht. So würde ich es übrigens auch machen. Wohlsein!innocent_smoothieflasche

 

Kolumne August 2017 © Kathrin Elfman

Mehr unter www.elfman.de 

 

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