Erkennst du die Spinne, wenn du sie siehst?

Eine giftige Spinne kommt aufgeregt an den Fluss. Dort sitzt ein Fischotter in der Sonne und putzt sich das Fell.

Spinne: »Hallo Otter, ich brauch deine Hilfe! Bitte lass mich auf deinen Rücken krabbeln und schwimm mit mir zum anderen Ufer!«
Otter: »Nein.«
Spinne: »Warum nicht?«
Otter: »Ich mag keine Spinnen. Euer Gift ist tödlich. Hau ab.«
Spinne: »Bitte, liebster Otter, du musst mir helfen!«

Otter: »Diesen Schmus hab ich schon mal gehört. Einer von euch hat meine beste Freundin Ottilie belabert, ist bei ihr eingezogen, und dann hat er sie gebissen, jetzt ist sie tot. Scher dich zum Teufel!«

Spinne: »Aber wenn du mich nicht mitnimmst, wird mich der Vogel dort fressen! Am anderen Ufer ist ein Gebüsch, da kann ich mich verstecken.«
Otter: »Pffffh, und? Ist nicht mein Problem.«
Spinne: »Ich mach mich auch gaaaaanz leicht. Du wirst gar nicht spüren, dass ich da bin, versprochen.«
Otter: »Und woher weiß ich, dass du mich nicht beißt und mit deinem Gift tötest?«
Spinne: »Warum sollte ich dir so etwas Grausames antun?«
Otter: »Weil du eine Giftspinne bist. Du kannst gar nicht anders.«
Spinne: »Denk doch mal nach. Würde ich dich beißen, dann würden wir beide ertrinken, also warum sollte ich das machen?«
Otter: »Hmmm …«
Spinne: »Bitte, hab ein Herz, vertrau mir doch!«
Otter: »Na gut, komm her.«

Widerwillig nimmt er die Spinne huckepack und schwimmt los. Unterwegs plaudern die beiden über alles Mögliche. Die Spinne benimmt sich ganz brav, der Otter entspannt sich und freut sich über die nette Gesellschaft. Genau in der Mitte des Flusses spürt er einen Schmerz im Nacken. Unmittelbar darauf kann er sich nicht mehr bewegen.
Otter: »Du dämliche Spinne, du hast mich gebissen! Warum hast du das getan? DU bist schuld, dass wir jetzt ertrinken!«
Spinne: »Du dämlicher Otter, warum hast du mich mitgenommen? Ich bin eine Spinne, du wusstest doch genau, dass ich nicht anders kann! DU bist schuld, dass wir ertr – «

(inspiriert durch die Fabel von Frosch und Skorpion)

Und die Moral von der Geschicht…

Klar, es gibt zweifellos eine Menge Arschlöcher, auf die die Beschreibung der Spinne haargenau passt. Doch wer ist schuld? Täterspinne, Opferotter? Betrachten wir uns mögliche Varianten:

1. Die Spinne ist ein narzisstischer Vampir, der Otter ein co-abhängiges Wirtswesen, das sich wider besseres Wissen in selbstzerstörerischer Weise als Energiespender anbietet und an zerschossenem Selbstwertgefühl leidet.

1a: Der Otter ist einfach zu nett.

2. Der Spinne ist aufgrund ihrer Giftigkeit schwer suizidal, schafft es aber nicht, sich das einzugestehen und braucht jemanden, der sie umbringt, damit sie sich als Opfer fühlen kann.

3. Der Otter ist gar nicht tot. Er stellt der Spinne eine Falle, um Rache für den Mord an seiner Freundin Ottilie zu nehmen. Nach jahrelanger Desensibilierungstherapie gegen Spinnengift ist er immun. Er lockt die Achtbeinige auf seinen Rücken, animiert sie zum Beißen und lässt sie dann absaufen, indem er die Lähmung vortäuscht und elegant abtaucht.

4. Die Spinne kann schwimmen.

5. Der Otter weiß, dass die Spinne schwimmen kann und hat mir ihr vereinbart, dass sie ihn töten soll, weil er suizidal ist und keinen Weg findet, seine Existenz zu beenden, schließlich kann er sich schlecht selber ertränken.

6. Der Otter existiert nicht, die Spinne halluziniert.

7. Die Spinne existiert nicht, der Otter halluziniert.

9. Der Fluss ist in Wirklichkeit eine Autobahn, und Spinne nebst Otter sind zwei Abiturientinnen ca. 1986 auf dem Weg zum Monsters of Rock in Pforzheim. Leider haben sie das ganze gute Kerala-Gras auf einmal geraucht, woraufhin der Punkt 8 in dieser Aufzählung unsichtbar wurde.

10. ?

 

KE © 2011 

7 Antworten auf „Erkennst du die Spinne, wenn du sie siehst?

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    1. …ignorier eine Spinnenabneigung nicht;-) Die Geschichte ist ein Anschauungsbeispiel für narzisstische Paradoxkommunikation, wobei die Spinne der Vampir und der Otter der co-abhängige Wirt ist. Oder – ist es am Ende vielleicht umgekehrt?

  1. Für mich ist das eine deprimierede Geschichte. Vielleicht weil sie so nahe an der Realität ist. Man möchte vertrauen, man möchte glauben – aber wem kann man vertrauen? Wem kann man glauben? Reicht das Bauchgefühl aus?

    1. Früher hätte ich diese Frage verneint, aber heute sage ich aufgrund zahlloser einschlägiger Referenzerlebnisse: Ja:-)))

      Man möchte vertrauen – ja, genau darum geht es. Aus dem »Möchten« muss aber zuerst eine aktive Handlung werden. Nicht Fremden gegenüber, sondern sich selbst. Der Otter vertraute sich selbst zu wenig und stellte das Gesäusel der Spinne über seine eigenen Wahrnehmungen. Wer sich selbst nicht wirklich vertraut, kann logischerweise auch die Vertrauenswürdigkeit anderer nicht einschätzen.

      Dieses »Ja« gilt also nur, wenn man sein Bauchgefühl tatsächlich ernst nimmt und es sich nicht von allen möglichen »ja, aber…« Quellen porös faseln lässt. Diese Quellen sitzen nicht immer im Außen, sie sind manchmal auch in uns selbst. Innerer Zensor, Schuldgefühle, projektive Gefühlsverlagerung usw.

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